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Die Ukraine-Krise im globalen Süden: kein „Epochenbruch“

Nummer 2 | 2022 | ISSN: 1862-3581


  • Aktivisten der Hindu Sena, einer rechtsgerichteten Hindu-Gruppe, halten Plakate und Fahnen, während sie an einem Marsch zur Unterstützung Russlands angesichts der anhaltenden Invasion in der Ukraine am Connaught Place in Neu-Delhi, Indien, teilnehmen.
    © Reuters / Anushree Fadnavis

    Am 2. März 2022 hat eine überwältigende Mehrheit von 141 Staaten der Vereinten Nationen den russischen Angriff auf die Ukraine scharf verurteilt. Die Einigkeit verdeckt aber, dass der Krieg mit Russland im globalen Süden anders wahrgenommen wird, als es hier im Westen der Fall ist. Das zeigt nicht zuletzt, dass die Staaten in Afrika, großen Teilen Asiens, Nahost und Lateinamerika nicht bereit sind, die Sanktionen gegenüber Russland mitzutragen.

    • Kleine und mittlere Staaten des globalen Südens sehen den russischen Einmarsch in der Ukraine als abschreckendes Beispiel eines mächtigen Staates, der über die Grenzen und Interessen seines kleineren Nachbarn hinweggeht. Für die allermeisten dieser Staaten ergibt sich daraus aber kein direktes Bedrohungsszenario. Der vom Westen ausgerufene „Epochenbruch“ wird nicht geteilt.

    • Russlands Rüstungskooperationen, der Export von Weizen, Düngemitteln und anderen Rohstoffen sind für viele Staaten im globalen Süden weiterhin von herausragender Bedeutung.

    • Die Staaten des globalen Südens möchten wählen können, wo und mit wem sie kooperieren. So erhalten sie sich ihre Autonomie in einer zunehmend von Großmachtkonflikten geprägten, multipolaren Welt.

    Fazit

    Im globalen Süden ist Russland kein Pariastaat. Wenn die deutsche Außenpolitik das verkennt und ihre Partner im globalen Süden dazu drängt, sich dieser Einschätzung anzuschließen, muss sie mit Unverständnis rechnen. Das gilt umso mehr für China. Eine stärker geopolitisch ausgerichtete deutsche Außenpolitik ist dennoch möglich. Die meisten Staaten im globalen Süden wünschen sich deutsche und europäische Alternativen zu Russland und China, sowohl im Bereich der Rüstungskooperation als auch bei der Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen oder in der Entwicklungszusammenarbeit. Zudem deckt sich die im Koalitionsvertrag der Bundesregierung festgehaltene, stärker wertebasierte Außenpolitik mit den Interessen kleiner und mittlerer Staaten an wirkmächtigen, multilateralen Institutionen, die allen Staaten einen Sitz und eine Stimme geben.


    Die Ukraine ist fern, Russland ist keine Bedrohung

    Die Verurteilung Russlands in der Generalversammlung der Vereinten Nationen durch 141 Staaten gilt vielen als Beleg dafür, dass Russland nun ein Pariastaat sei. Der geeinte Westen könne sich gegenüber Russland also auf die Unterstützung praktisch aller Staaten berufen – minus der üblichen Verdächtigen (also Nordkorea, Syrien, Belarus, Eritrea und natürlich China). Tatsächlich verdeckt die Einigkeit der Vereinten Nationen, dass die große Mehrzahl der Staaten im globalen Süden eine andere Wahrnehmung des Ukraine-Konflikts hat als wir im Westen.

    Natürlich teilen kleine und mittelgroße Staaten in Asien, Afrika, Nahost und Lateinamerika ein grundsätzliches Unbehagen gegenüber dem Einmarsch Russlands. Der Botschafter Kenias in den Vereinten Nationen brachte das in einer vielfach in den sozialen Medien geteilten Ansprache zum Ausdruck: Mit dem Ende des Kolonialismus hätten die Staaten Afrikas auch die in den kolonialen Metropolen willkürlich gezogenen Staatsgrenzen des Kontinents anerkannt. Anstatt sie mit Verweis auf die Geschichte oder kulturelle Faktoren gewaltsam zu verändern, hätten die Staaten Afrikas nach vorne geschaut. Der russische Bruch mit der Staatenordnung wie sie in den Vereinten Nationen festgeschrieben ist, sei eine neue Form der Unterdrückung (The Guardian 2022). Eine Welt aufgeteilt in regionale Einflusssphären, wie sie Russland und China zugeschrieben wird (z. B. The Economist 2022), lehnen die allermeisten Staaten des globalen Südens mit gutem Grund ab. Besonders sichtbar wurde das mit den Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine in zentralasiatischen Staaten: Trotz historisch enger Beziehungen zu Moskau finden sich auch in Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan, Turkmenistan und Usbekistan keine Unterstützer des russischen Kurses. Keine der zentralasiatischen Regierungen erkennt die von der Ukraine abtrünnigen und von Russland protegierten Regionen Luhansk und Donezk an. Bei der Abstimmung in der Generalversammlung der Vereinten Nationen haben sich drei der Staaten enthalten, zwei weitere sind gar nicht erst erschienen.

    In den weniger direkt betroffenen Staaten Südostasiens, Südasiens, Afrikas oder Lateinamerikas dominiert der Wunsch, sich nicht in einen als europäisches Problem wahrgenommenen Konflikt hineinziehen zu lassen. Das heißt auch, dass die westliche Darstellung des Krieges als globale Herausforderung viele nicht überzeugt – die Ukraine ist fern und die historischen Umstände sind weitgehend unbekannt. So erklärt sich auch, dass die Ukraine-Krise in der Öffentlichkeit vieler Staaten kaum stattfindet. Oder sie findet statt, aber unter anderen Vorzeichen, wenn es zum Beispiel darum geht, dass die Folgen für die Weltwirtschaft diskutiert werden oder die USA sich aufgrund des Krieges dem ölreichen Venezuela annähern. Auch sind die Konfliktherde im Rest der Welt nicht verschwunden, weder der in Syrien, Jemen, Äthiopien noch der in Myanmar. Dass mit der Ukraine nun ein europäisches Land betroffen ist, dass sich also die europäische Sicherheitsarchitektur als instabil erwiesen hat, macht noch keinen Epochenbruch. Ganz im Sinne des Kremls stellt sich der Konflikt aus der Ferne als ein Großmachtkonflikt in und über Europa dar. Und im Streit zwischen den Großmächten der Welt haben kleinere und mittlere Staaten im globalen Süden wenig zu gewinnen und viel zu verlieren. Schließlich ist auch das Argument der Scheinheiligkeit des Westens nicht fern. So registrieren die Medien in Afrika oder Südasien genau, wenn nur weiße Flüchtlinge aus der Ukraine mit offenen Armen empfangen werden. Inder wiederum fragen, wo die westliche Kritik an China im Zuge der Grenzstreitigkeiten im Himalaya der vergangenen Jahre gewesen ist.

    Rüstungskooperationen und andere Interessen

    Ebenso schwer wiegt, dass viele Staaten im globalen Süden konkrete Interessen an gedeihlichen Beziehungen zu Russland haben. Ägypten, Algerien und China beziehen große Mengen an Waffen aus Russland. Weltweit die Nummer zwei hinter den USA ist Russland seit einigen Jahren schon wieder der wichtigste Rüstungsexporteur nach Afrika. Auch Indien und Vietnam beziehen einen Großteil ihrer Rüstungsgüter aus Russland. Für mehr als fünf Mrd. USD kauft Indien unter Premierminister Modi das russische S-400 Boden-Luft-Raketenabwehrsystem. Bislang deutet nichts darauf hin, dass der Ukraine-Konflikt etwas daran ändern würde, trotz Sanktionsdrohungen durch die USA. Rüstungskooperationen dieser Art sind ein Resultat jahrzehntelanger Partnerschaften mit Lieferverträgen über viele Jahre hinweg und massiven politischen und technologischen Pfadabhängigkeiten. So lassen sich einmal eingerichtete Waffensysteme nur schwer ersetzen. Sie benötigen Ersatzteile und Unterhalt, die nur Russland liefern kann. Zumal diese Staaten ihre Waffen in Russland kaufen, weil sie sich bedroht fühlen, durch Nachbarstaaten oder im Inneren, weil sich die Rüstungskooperation mit Russland bewährt hat oder weil ihnen Moskau bessere Angebote macht als der Westen mit seinen häufig teureren und technisch anspruchsvolleren Systemen sowie aufwändigeren Genehmigungsverfahren. Trotz des geringen Anteils Russlands am Welthandel berühren im Rüstungsbereich die bilateralen Beziehungen Russlands zu manchen Staaten im globalen Süden also durchaus existenzielle Interessen (siehe Abbildung 1).


    Bilaterale Beziehungen Russlands im Rüstungsbereich zu manchen Staaten im globalen Süden.

    Abb. 1: Die 15 größten Importeure russischer Rüstungsgüter, 2017–2021, SIPRI Trend Indicator Values (TIVs) in Millionen

    Quelle: SIPRI 2022.

    Das trifft auch auf den Handel mit Weizen zu. Weizen aus Russland, dem größten Exporteur weltweit, ist Grundnahrungsmittel im Nahen Osten und Nordafrika. Staaten in beiden Regionen treffen die westlichen Sanktionen hart. Wir erinnern uns: Der arabische Frühling begann mit sogenannten bread riots, mit in politische Proteste umgeschlagene Unzufriedenheit über massiv steigende Preise für Grundnahrungsmittel.

    Zwar ist die Abhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle im globalen Süden deutlich weniger ausgeprägt als in Europa. Rohstoffreiche Staaten wie Nigeria oder Tansania können sich sogar Hoffnung machen, von der europäischen Abkehr von russischem Gas und Öl zu profitieren. Dennoch macht russisches Gas ein Drittel des türkischen Verbrauchs aus. Trotz NATO-Mitgliedschaft trägt die Türkei die Russland-Sanktionen nicht mit. Brasilien und asiatische Staaten beziehen große Mengen an russischen Düngemitteln, die für die Agrarwirtschaft unverzichtbar sind. Und im rohstoffarmen Bangladesch baut Russland gemeinsam mit Indien ein Atomkraftwerk. Der Westen war von Anfang an gegen das Projekt, das für Bangladesch ein zentraler Baustein ist, um den steigenden Energiebedarf zu decken. Der russische Staatskonzern Rosatom ist Weltmarktführer und baut auch in der Türkei, Ägypten und anderen Staaten in Afrika und dem Nahen Osten. Seit dem Jahr 2016 kooperiert Russland im Rahmen von OPEC+ mit Ölexporteuren in Lateinamerika, Nahost und Afrika. Insbesondere für Saudi-Arabien ist OPEC+ eine auch geopolitisch relevante Bindung zu Moskau.

    Die Sehnsucht nach Autonomie

    Die politischen Eliten in vielen Ländern des globalen Südens teilen die Auffassung, dass die USA als Supermacht ausgedient haben, dass nicht zuletzt die Unwägbarkeiten der US-amerikanischen Innenpolitik die USA als Garantiemacht in Nahost und Asien mittelfristig – also jenseits der Biden-Administration – diskreditiert, dass, auf der anderen Seite, China aber auch für die wachsenden Volkswirtschaften in Südost- und Südasien eine wichtigere Rolle spielen wird. Kurz gesagt, dass die Welt wirklich multipolar ist, bald sein wird oder sein sollte.

    Der geopolitische Kontext ist also weit komplexer, als es die Zweiteilung von Russland und China auf der einen und einem geeinten Westen auf der anderen Seite Glauben macht. Indiens Haltung seit Beginn des Ukraine-Russland-Krieges verdeutlicht die neue Komplexität einer multipolaren Welt. In Neu-Delhi galten die Sowjetunion und später Russland seit jeher als ein verlässlicher Partner für die eigene auf „strategische Autonomie“ bedachte Außenpolitik. Verdient hat sich Russland dieses Vertrauen auch durch sein Abstimmungsverhalten in für Indien wichtigen Entscheidungen über Kaschmir im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die enge politische Anbindung an Moskau über Rüstungskooperationen hinaus soll Indien auch gegenüber China helfen. Die Eskalation von Grenzstreitigkeiten zwischen beiden Staaten im Himalaya im Jahr 2020 hat Indien nochmal vor Augen geführt, dass es allein kaum gegen den militärisch und ökonomisch weit überlegenen Nachbarn im Norden bestehen könnte. Insofern ist die Isolation Russlands und eine darauffolgende, noch massivere Abhängigkeit Moskaus von Peking ein Schreckensszenario für die indische Außenpolitik. Vielmehr wünscht man sich ein starkes Moskau, das China herausfordern und gegebenenfalls im Sinne Indiens beeinflussen kann. Aus dieser Perspektive spielt die ferne Ukraine nur eine untergeordnete Rolle.

    Für kleinere und mittlere Staaten im globalen Süden bringt die neue geopolitische Komplexität Vor- und Nachteile: Vorteilhaft ist, wenn sich alternative Partner bei der Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen, in der Entwicklungszusammenarbeit und bei Rüstungskooperationen anbieten. Tatsächlich haben viele Staaten im globalen Süden eine besondere Kompetenz darin entwickelt, rivalisierende Geberstaaten gegeneinander auszuspielen, um so den Mittelzufluss einerseits und die eigene Autonomie andererseits zu maximieren. Bangladesch zum Beispiel ist in hohem Maße abhängig von seinem großen Nachbarn Indien, bezieht aber den Großteil der Rüstungsgüter und Infrastrukturinvestitionen von China. Gleichzeitig konnte Dhaka in den letzten Jahren die finanzielle Unterstützung durch die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Westen maximieren – im selben Zeitraum, in dem es langsam in Richtung Autokratie abrutschte und wirtschaftlich zu einem lower middle income country aufgestiegen ist. Eine solcherart für die Regierung Bangladeschs erfolgreiche Politik war nur möglich, weil die großen Nachbarn Indien und China in Konkurrenz zueinanderstehen, weil die geostrategische Bedeutung des Landes über die Jahre gestiegen ist – und weil Bangladesch sich nicht für einen der Partner entscheiden musste (Plagemann 2021).

    Eine multipolare Welt hat aber auch Nachteile. Wir haben in einem laufenden Forschungsprojekt unter dem Titel „Legitimate Multipolarity“ die mediale Berichterstattung zu den G20-Gipfeln und anderen internationalen Organisationen seit der Weltfinanzkrise 2008 aus einer ganzen Reihe von Staaten im globalen Süden ausgewertet. Ergebnis: great power politics, das Aushandeln von globalen Regeln in exklusiven Gruppen großer Staaten wird weithin als illegitim wahrgenommen. Die abstrakte Ablehnung von Großmachtpolitik im globalen Süden deckt sich mit einer anderen Beobachtung aus der Forschung. Die schon ein paar Jahre zurückliegende Diskussion um regionale Führungsmächte – oder „Ankermächte“ – hat gezeigt, dass Staaten wie China, Indien oder Brasilien den bisweilen selbst aufgestellten Anspruch, die Interessen ihrer kleineren Nachbarstaaten in globalen Foren mitzuvertreten, schlicht nicht eingelöst haben (Prys 2010).

    All das heißt: Was derzeit Russland und China zugeschrieben wird, der Wunsch nach einer Welt aufgeteilt in regionale Einflusssphären, ist extrem unattraktiv für praktisch alle Staaten jenseits dieser zwei Pole. Insofern ist eine deutsche Außenpolitik, die dem entgegenwirken will, zunächst mal im Vorteil. Zum Beispiel wünschen sich viele Staaten in Asien europäische oder deutsche Alternativen zu den Infrastrukturinvestitionen aus China, die durchaus auch als Versuch der Konsolidierung von regionalen Einflusssphären wahrgenommen werden. Andererseits finden sich aber im globalen Süden nur wenige euphorische Abnehmer für den von der Biden-Administration ausgerufenen globalen Wettstreit zwischen Autokratien und Demokratien. Das liegt einerseits daran, dass die konsolidierte Demokratie im globalen Süden nicht die Regel ist. Die Skepsis liegt aber noch tiefer, schließlich teilen auch die politischen Eliten vieler demokratischer Staaten die Vorwürfe Chinas, dass der westliche Demokratie-Diskurs letztlich ein spätkolonialer Versuch der politischen Einflussnahme ist.

    Während der Ukraine-Krieg in Deutschland Weltkriegstraumata weckt, setzt er in den USA und Großbritannien auch positive Erinnerungen frei. Der siegreiche Zweite Weltkrieg und das Ende des kalten Kriegs sind dort Momente des Triumphs und wecken Gefühle der Stärke und globalen Führungsmacht, letztlich das Gefühl auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Diese historisch-emotionale Dimension fehlt in den Ländern des globalen Südens, die ihre Freiheit durch das Ende der europäischen Kolonialisierung gewonnen haben. Oder sie stellt sich anders dar: In Staaten wie Mosambik oder Angola führten die USA blutige Stellvertreterkriege gegen die von der Sowjetunion gestützten Befreiungsbewegungen. Auch in Südafrika und Simbabwe sind genau diese Befreiungsbewegungen noch an der Macht. Die Rückbesinnung auf den Ost-West-Konflikt und der Aufruf, sich hinter USA und NATO zu sammeln, erzeugt hier also Ablehnung. Kein Wunder, dass sich Mosambik sowie Südafrika, Simbabwe und Angola in den Vereinten Nationen enthalten haben.

    Überhaupt wirkt die rhetorische und politische Wiederbelebung eines bipolaren Konflikts aus der Zeit gefallen. Gerade im globalen Süden haben sich viele längst darauf eingestellt, dass Gegenwart und Zukunft multipolar sind. Sinnbildlich dafür sind die Reaktionen im Nahen Osten auf US-amerikanische Versuche Russland zu isolieren (Hamzawy 2022). Weder folgten sie dem Wunsch nach einer Erhöhung der Ölproduktion noch sind auch alte Verbündete wie Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate bereit, ihre neutrale Haltung im Ukraine-Krieg aufzugeben. Stattdessen setzt man hier wie anderswo auf eine weniger dominante USA, vielleicht auf ein selbstbewussteres Europa, vor allem aber auf China, Russland, und Indien, die auch politisch und diplomatisch als Alternativen zum Westen auftreten. Zum Beispiel als alternative Geber in der Entwicklungszusammenarbeit, wie es die Türkei in Nordafrika vormacht.

    Was kleinere und mittlere Staaten im globalen Süden aber besonders fürchten, ist, dass Großmachtkonflikte eskalieren, dass sie sich also wirklich entscheiden müssen, auf welcher Seite sie stehen – und damit Autonomie ebenso verlieren wie potenziell lukrative Entwicklungspartnerschaften. Den Aufstieg Chinas hat der globale Süden vor allem deswegen begrüßt, weil das Land eine Alternative zu den westlichen Partnern darstellt. Das Gleiche gilt für Russland, das seine Präsenz in Afrika in den letzten Jahren massiv gesteigert hat (Basedau 2022). Die große Mehrzahl der Staaten im globalen Süden wollen wählen können, mit wem sie wo kooperieren. Nur so erhalten sie sich ihre Autonomie gegenüber den Großmächten der Welt.

    Folgen für die deutsche Außenpolitik

    Was folgt daraus für die deutsche Außenpolitik im und gegenüber dem globalen Süden? Zuvorderst: Russland ist kein Pariastaat. Eine Außenpolitik mit dem Ziel, Russland oder gar China auszuschließen, ist wenig erfolgversprechend. Alternativen zu Russland und China anzubieten, sind es aber durchaus. Nun sollte es jedoch nicht um des Konkurrierens der Konkurrenz willen gehen. Deutsche Steuerzahler haben ein Recht darauf zu wissen, welchem Zweck die Finanzierung zum Beispiel eines Hafens in Ostafrika dient, zumal in einem möglicherweise zweifelhaften Regime.

    Notwendig ist daher eine ehrliche Debatte darüber, welche Interessen wir gegenüber unseren Partnern priorisieren und warum. Das gilt umso mehr, als dass unsere Partner im globalen Süden ein gutes Gespür dafür haben, was uns welche Interessen wert sind. Das heißt: Auszusprechen, in welchem Fall das deutsche Interesse an Versorgungssicherheit im Energiebereich schwerer wiegt als der selbst auferlegte Auftrag, die Menschenrechte zu befördern. Oder: Wann eine effektive Klimapolitik beinhaltet, mit Staaten zu kooperieren, die demokratische Mindeststandards unterlaufen. Russland ist hier ein mahnendes Beispiel. Statt das Land und seine Führung öffentlich zu verklären, hätte man schon viel früher deutlich machen müssen, dass wir die der deutschen Außenpolitik durchaus bekannten politischen Risiken zugunsten günstiger Energie in Kauf nehmen. Zugegeben: Diese Erkenntnis ist im Nachhinein einfach. Aber eine ehrlichere Debatte hätte möglicherweise dazu beigetragen, schon früher damit zu beginnen, Importe zu diversifizieren. Die ehrliche Diskussion von trade-offs, von Risiken also, die die Kooperation mit Autokratien zwangsläufig einherbringen, muss dazu führen, Energie-Partnerschaften genauso wie andere Abhängigkeiten – etwa im Bereich des Außenhandels mit China – zu diversifizieren. Risiken minimieren wir, indem wir uns auf eine Vielzahl von Partnern stützen. So kann ein Ausgleich von bleibenden Zielkonflikten gelingen: Unser Wohlstand hängt maßgeblich von der Weltwirtschaft ab. Und die wiederum ist auch abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas.

    Ehrlichkeit, was unsere Partner angeht, sollte auch mit einer Ehrlichkeit in Bezug auf unsere außenpolitischen Mittel einhergehen. Die Entsendung weiterer deutscher Marineschiffe oder der Luftwaffe in den Indo-Pazifik etwa erscheint vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise abwegig. Einerseits, weil die Defizite der deutschen Verteidigungsfähigkeit offen zutage getreten sind. Andererseits, weil sie in der Region das falsche Signal setzen, gegenüber den Öffentlichkeiten in Südostasien, die einer multipolaren Welt viel Positives abgewinnen können. Das heißt auch, dass Deutschland mit dem Aufstieg Chinas und anderer Staaten relativ an Gewicht verloren hat. Attraktive Angebote, um Staaten im globalen Süden für unsere Interessen einzunehmen, können wir allein immer weniger aufbringen. Umso wichtiger ist der europäische Verbund in unseren Beziehungen zum globalen Süden. Europäische Alternativen zu Russland und China sind umso wirkmächtiger, je mehr sie gesamteuropäische Ressourcen nutzen, etwa im Rahmen der 2021 vorgestellten Global Gateway Initiative.

    Die Attraktivität des Westens steigt nicht, wenn wir einer neuen Bipolarität das Wort reden, die im globalen Süden selbst keine Abnehmer findet. Zumal eine geopolitisch versiertere deutsche Außenpolitik auch erkennen muss, dass es nicht in unserem Interesse ist, dazu beizutragen, China und Russland zusammenzutreiben. Nicht bloß erfolgreich konkurrieren, sondern positiv von beiden Staaten absetzen können sich Deutschland und Europa, wenn wir uns glaubwürdig für wirkungsvolle, globale multilaterale Institutionen einsetzen, in denen die Staaten des globalen Südens – und zwar nicht nur die ganz großen – eine Stimme haben. Hier decken sich die Interessen Deutschlands an einer regelbasierten internationalen Ordnung mit den Interessen vieler kleiner und mittelgroßer Staaten im globalen Süden. Für diese sind Großmacht- und Geopolitik Synonyme für Bevormundung. Die deutsche Außenpolitik benennt das auch, zum Beispiel in den Leitlinien zum Indo-Pazifik von 2020, wo es heißt:

    „Weder Unipolarität noch Bipolarität: Kein Land soll – wie in Zeiten des Kalten Krieges – vor die Wahl gestellt werden, sich zwischen zwei Seiten entscheiden zu müssen, bzw. in einseitige Abhängigkeiten geraten“ (Auswärtiges Amt 2020, 9).

    Tatsächlich zeigt die Medienberichterstattung aus unserem laufenden Forschungsprojekt „Legitimate Multipolarity“ in so verschiedenen Staaten wie Bangladesch, Singapur, Südkorea, Brasilien oder Chile eine tiefe Sehnsucht nach wirkmächtigen und inklusiven globalen Institutionen, in der alle Staaten einen Sitz und Stimme haben. Gerade solche Institutionen sind aber in den letzten Jahrzehnten unter Beschuss geraten. Auch hier ist die deutsche Außenpolitik aufmerksam geworden, etwa in ihrer – wenn auch bislang nicht sehr folgenreichen – „Allianz für den Multilateralismus“, die nun mit dem (vorläufigen) Ende der Trump-Administration einem ungewissen Schicksal entgegensieht. Dabei zeigt sich gerade hier die große Überschneidung, zwischen einer stärker wertebasierten und einer geopolitischen versierteren deutschen Außenpolitik, wie sie jetzt im Zuge der Ukraine-Krise gefordert wird.


    Fußnoten


      Literatur

      Auswärtiges Amt (2020), Leitlinien zum Indo-Pazifik, Berlin, Zugriff 11. April 2022.

      Basedau, Matthias (2022), „The Bigger Picture“: Mali, Dschihadismus und der Rückzug des Westens, GIGA Focus Afrika (im Erscheinen).

      Hamzawy, Amr (2022), The Negev Summit’s Participants Had Wildly Different Goals, Carnegie Endowment for International Peace Commentary, 6 April, Zugriff 11. April 2022.

      Plagemann, Johannes (2021), Small States and Competing Connectivity Strategies: What Explains Bangladesh’s Success in Relations with Asia’s Major Powers?, in: The Pacific Review, 1–29, DOI: 10.1080/09512748.2021.1908410.

      Prys, Miriam (2010), Hegemony, Domination, Detachment: Differences in Regional Powerhood, in: International Studies Review, 12, 4, 479-504.

      SIPRI (2022), SIPRI Arms Transfers Database, Stockholm International Peace Research Institute, Zugriff 11. April 2022.

      The Economist (2021), The Alternative World Order, in: The Economist, 19. März, Zugriff 13. April 2022.

      The Guardian (2022), Kenya’s Envoy to UN Cites Colonial Past As He Condemns Russian Move into Ukraine–video, in: The Guardian, 22. Februar, Zugriff 11. April 2022.



      Wie man diesen Artikel zitiert

      Plagemann, Johannes (2022), Die Ukraine-Krise im globalen Süden: kein „Epochenbruch“, GIGA Focus Global, 2, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA), https://doi.org/10.57671/gfgl-22021


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